Arbeitszeitflexibilisierung: Wer mehr arbeitet, muss mehr ruhen

Offener Brief von Dr. Rudolf Karazman an die Bundesregierung, März 2017

IBG – Innovatives 
Betriebliches Gesundheitsmanagement
http://www.ibg.co.at/

Was als Arbeitszeit-Flexibilisierung diskutiert wird, ist beim gegenwärtigen Verhandlungsstand keine Flexibilisierung, sondern eine Arbeitszeit-Verlängerung. Es fehlen die Wahlmöglichkeiten der MitarbeiterInnen und die entsprechende Erholungszeit. Regelmäßige 12-Stunden-Dienste sollten mit einer 30 h Wochenarbeitszeit verbunden werden.

Derzeit geht es um Verlängerung, nicht Flexibilisierung

Arbeitszeitflexibilisierung repräsentiert eines der Top-Themen der gegenwärtigen innen- und wirtschaftspolitischen Diskussion. Sie als politische Entscheidungsträger sind gefordert, die Tragweite einer möglichen Lösung in ihrer Gesamtheit zu beurteilen. Als Facharzt für Arbeitsmedizin und auch als Unternehmer habe ich nicht den Eindruck, dass den sozialen und arbeitsmedizinischen Aspekten jener Raum eingeräumt wird, den diese benötigen. Die gegenwärtige Gestaltung des Themas „Arbeitszeitflexibilisierung“ ist nicht nachhaltig, weil die menschliche Verausgabung mit der Arbeitsdauer steigt – und zwar exponentiell. Ohne entsprechend verlängerte Erholungszeit sind vorzeitige Arbeitsunfähigkeit, zunehmende Krankenstände, steigende Gesundheitskosten und vorzeitige Pensionierungen programmiert. Derartige Ausgleichsmaßnahmen fehlen in der Diskussion derzeit völlig. Es geht bei der Thematik nicht nur um geldwerte Balance.

Die Kosten fressen die Vorteile

Ich prognostiziere, dass der wirtschaftliche Vorteil der ausgedehnten Arbeitszeiten durch die verringerte Produktivität der zehnten oder 12. Arbeitsstunde zunichte gemacht werden wird – von den volkswirtschaftlichen Kosten einmal ganz abgesehen.

Der Diskussion fehlt die Wahlmöglichkeit der Mitarbeiter

Eine echte Flexibilisierung bietet den Mitarbeitern Wahlmöglichkeiten zwischen kurzen und längeren Diensten, zwischen gängiger und kürzerer WAZ, zwischen Normal-Urlaub und XXL-Urlaub. Echte Optionen für die Belegschaft sind der Hebel, um Stress, Krankheit und Frühpension zu vermeiden und Produktivität und Qualität zu verbessern. Die Präferenz für eine Arbeitszeit-Form lässt die Arbeit leichter bewältigen, wie ich und meine Mitarbeiter in etlichen Untersuchungen nachweisen konnten.

Nicht noch mehr Arbeitsstunden!

Eine Ausweitung der Arbeitszeit ist nach Möglichkeit zu verhindern, weil durch Rationalisierung und Optimierung die Arbeitsintensität schon beim bisherigen Arbeitstag meist an der Grenze ist. Die hohe Rate an Burn Out belegt dies. Eine nicht ausbalancierte Ausweitung des Arbeitstages erhöht das Risiko von Krankheit und Frühpension. In vielen Berufen ist eine kürzere Dienstzeit anzuraten, z.B. Intensiv-Krankenpflege, Nachtarbeit, ÖPNV-FahrerInnen, LehrerInnen.

12-Stunden-Tag braucht 30-Stunden-Woche

Die psychobiologische Verausgabung steigt exponentiell mit der Dauer des Arbeitsalltages. Eine Ausweitung des Arbeitstages verlangt daher deutlich mehr Erholungszeit als Teil der sozial wirksamen Arbeitszeit. Eine Ausweitung des Arbeitstages muss durch gleichwertigen Zeitausgleich kompensiert werden. Regelmäßige 12-Stunden-Dienste sollten mit einer 30h-WAZ verbunden werden. In die sozial wirksame AZ sind auch Wegzeit, Auf- und Abrüstzeit, Vorbereitung etc. miteinzurechnen, damit das wahre Ausmaß zeitlicher Anstrengung realistisch berechnet und genügend Regenerationszeit geplant werden kann.

Evaluierungen der Entwicklungen

Es braucht ein humanökologisches Monitoring des Arbeitsvermögens und der gesundheitlichen Qualität der Arbeitsprozesse, damit chronische Fehlanforderung und Stress, Krankheit, Frühpensionen und Produktivitätsverluste vermieden werden. Insbesondere Arbeitszeit-Veränderungen brauchen Mitsprache, Bewusstseinsbildung und Zustimmung sowie im ersten Jahr engere Evaluierung, um für Mitarbeiter wie Unternehmen gute Wege zu ebenen.

Funktionierende Beispiele

Ich habe viele Arbeitszeit-Flexibilisierungsprojekte in Österreichs Unternehmen begleitet. Heute arbeiten zehntausende SchichtarbeiterInnen z.B. mit optionalen Schichtplänen, d.h. sie verfügen über eine Wahlmöglichkeit der Wochenarbeitszeit oder Dienstlänge. Dies bringt wirkliche Flexibilisierung:

  • voest-alpine/Stahl Linz
  • Agromelamin Linz (heute AMI Linz)
  • Polyfelt Gesosynthetics
  • Nettingsdorfer Papierfabrik
  • KAV Krankenanstaltenverbund Wien
  • Münchner Verkehrsbetriebe

Ich habe dazu mehrere Bücher und wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht:
Das Buch „Gesunde Arbeitszeiten im Pflegeberuf“ (Hg. Generaloberin Charlotte Staudinger (KAV) und Prof. Rudolf Karazman (IBG)) befasst sich mit der Gesundheitsverträglichkeit von 12-Stunden-Schichten und ihrem Effekt auf Lebensqualität und Leistungsfähigkeit..
Die Beratungs-website http://www.arbeitundalter.at von IV, AK, ÖGB und WKO wurde von mir entwickelt und enthält viele evaluierte Fallbeispiele von AZ-Flexibilisierung.
Im Buch „Human Quality Management–Menschengerechte Unternehmensführung“ beschreibe ich Kriterien, Wege und Beispiele für gesundheitsfördernde AZ-Gestaltung: https://zukunftmitverantworten.org/2016/04/26/statt-entfremdender-arbeit-gemeinsame-sinnstiftende-erwerbstaetigkeit/
Dies sind Empfehlungen aus mehr als 20 Jahren wissenschaftlicher Arbeit und betrieblichen Praxisprojekten. Kurzsichtige betriebswirtschaftliche Maßstäbe reichen nicht, um der Ressource Mensch gerecht zu werden.
Rudolf Karazman
Email: rudolf@karazman.at

PS: So bleiben ArbeitnehmerInnen im Arbeitsprozess:

  • Altersteilzeit sollte nur gleitend in Anspruch genommen werden dürfen, und nicht mehr als Block.
  • Statt Senioritätsprinzip oder Zulagen wäre eine Arbeitszeit-Reduktion gesundheitsverträglicher.
  • Statt Steuerbegünstigung für Überstunden sollte die Ausweitung des MA-Pools gefördert werden.
  • Die Zahl an Überstunden sollte mit 5 h/Woche begrenzt sein.

1 Kommentar

  1. Antwort von Bundesminister Alois Stöger, April 2017:
    …..Ich stimme mit Ihnen völlig überein, dass Flexibilität niemals eine Einbahnstraße sein darf. Genau aus diesen Gründen habe ich auch schon bei mehreren Gelegenheiten klar gesagt, dass ich einer Flexibilisierung von Arbeitszeiten nur zustimmen kann, wenn auch Vorteile für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer daraus resultieren und sie nicht gesundheitsschädlich ist.
    In diesem Zusammenhang darf ich auch auf den Plan A verweisen, der ganz in Ihrem Sinne den Vorschlag eines Wahlarbeitszeitmodells enthält, bei dem Arbeitnehmerinnen ein generelles Recht auf Änderung des Arbeitszeitausmaßes (Wechsel von Vollzeit zu Teilzeit und umgekehrt, Änderung des Teilzeitausmaßes etc.) erhalten sollen….

    Antwort von Bundesminister Reinhold Mitterlehner, März 2017:
    …Einige Ihrer Darstellungen sind für mich jedoch nicht nachvollziehbar. In Ihrer ersten These gehen Sie davon aus, dass sich die Diskussion nicht um Flexibilisierung, sondern um Verlängerung der Arbeitszeit dreht. Ich kann Ihnen versichern, dass das sicher nicht der Fall ist. Auch geht es in der Diskussion keinesfalls um „regelmäßige 12-Stunden-Dienste“, wie Sie es in Ihrem Schreiben formulieren. Weites sprechen Sie die fehlende Wahlmöglichkeit durch die Mitarbeiter an. Auch diese Behauptung kann so nicht im Raum stehen bleiben.
    …. Dabei steht außer Frage, dass die wöchentliche Arbeitszeit nicht ausgedehnt werden soll. Mitarbeiter können durch einzelnen längere Arbeitstage aber auch längere Freizeit-blöcke erreichen, etwa durch einen zusätzlichen freien Tag im Zusammenhang mit dem Wochenende. Der Wortlaut des Regierungsprogramms ist hier sehr klar: „Höchstarbeitszeitgrenzen anheben: bei Gleitzeit bis zu 12 Stunden (Gleit- oder Überstunden) unter Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 50 Stunden zur Erreichung größerer Freizeitblöcke;“

    Stellungnahme in Arbeit & Wirtschaft, Sept.2017:
    http://www.arbeit-wirtschaft.at/servlet/ContentServer?pagename=X03/Page/Index&n=X03_1.a_2017_07.a&cid=1505354413651

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